Von der Machtübernahme bis zum Boykott

Von der Machtübernahme am 30.1.1933 bis zum Boykott am 1.4.1933

Am 30.1.1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Das von ihm gebildete Kabinett leitete sofort die Errichtung und Festigung der faschistischen Diktatur ein. Hierbei half ihnen der Brand des Reichstagsgebäudes am 27.2.1933, der nach Hitler von Kommunisten angezündet wurde. Aufgrund dessen erließ Hindenburg schon einen Tag später, am 28.2.1933, die von Hitler vorgelegte Notverordnung "zum Schutz von Volk und Staat, die zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte", die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung "bis auf weiteres" außer Kraft setzte. Hiernach waren daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechtes der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit, Anordnungen von Hausdurchsuchungen und die Beschlagnahme des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten Gesetze zulässig. Durch diese Verordnung bekam die Reichsregierung große Vollmachten zur"Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung". Es dauerte nicht lange, da wurde diese Verordnung gegen alle Gegner des Nationalsozialismus angewandt.

Schon wenige Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler begannen die ersten Judenverfolgungen. Den aus den Jahren vor 1933 angestauten antisemitischen Gefühlen wurde freier Lauf gelassen. Diese "wilden Aktionen" richteten die Nazis hauptsächlich gegen jüdische Juristen und jüdische Mediziner. Im März `33 wurden in Breslau die Gerichte gestürmt und jüdische Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte aus dem Gerichtsgebäude geprügelt. Aber auch im übrigen Reich wurden Aktionen gegen jüdische Warenhäuser und jüdische Geschäfte durchgeführt.

Durch diese Terrormaßnahmen bekamen die Nationalsozialisten auf der internationalen Ebene eine schlechte Presse, in der sich vereinzeltForderungen von Handelsboykott gegen das Deutsche Reich bzw. deutsche Produkte bemerkbar gemacht haben. Die Nazis nutzten diese "Greuelpropaganda" der jüdischen Auslandsorganisationen zu einer "reinen Abwehrmaßnahme" gegen deutsche Juden. Diese sogenannte "Abwehrmaßnahme" wurde von den Nazis offiziell "Judenboykott" genannt und am 28.3.33 von der Parteileitung angeordnet. Diese veröffentlichte am selben Tag noch eine Anordnung zur Organisation des Boykotttages, in der unter anderem folgende Anweisungen gegeben wurden:


1. In jeder Ortsgruppe und Organisationsgliederung der NSDAP sind sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte... (...)

3. Die Aktionskomitees haben sofort durch Propaganda und Aufklärung des Boykott zu popularisieren. Grundsatz: Kein Deutscher kauft noch bei einem Juden oder lässt von ihm und seinen Hintermännern Waren anpreisen. Der Boykott muss ein allgemeiner sein. Er wird vom ganzen Volk getragen und muss das Judentum an seiner empfindlichsten Stelle treffen. (...)

7. Die Aktionskomitees müssen bis in das kleinste Bauerndorf hinein vorgetrieben werden, um besonders auf dem flachen Land die jüdischen Händler zu treffen. Grundsätzlich ist immer zu betonen, dass es sich um eine aufgezwungene Abwehrmaßnahme handelt. (...)

8. Der Boykott setzt nicht verzettelt ein, sondern... schlagartig Samstag, den 1. April Punkt 10 Uhr vormittags... (...)

11. Die Aktionskomitees sind dafür verantwortlich, dass sich dieser gesamte Kampf in vollster Ruhe und größter Disziplin vollzieht. Krümmt auch weiterhin keinem Juden auch nur ein Haar! (...)


Dieser Ankündigung folgten "wilde" Aktionen, schon vor dem 1. April, in vielen Orten des Reiches, vor allem aber im Ruhrgebiet. Der Organisator dieses "Zentral-Komitees zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze" der Herausgeber des "Stürmers" und Gauleiter von Franken, Julius Streicher, machte am 30. März einen erneuten Aufruf. Hier waren die zu boykottierenden Geschäfte genau definiert. Der Boykott verlief im wesentlichen nach der Vorgabe der Parteiführung; auch Gewalt ist weitgehend unterblieben. Der Hannoversche Anzeiger vom 2. April berichtet dazu:

"...Besonders im Zentrum der Stadt (Hannover) standen vor den jüdischen Geschäften erregt debattierende Menschenmengen. Die Neugierigen, die bei dem Boykott besondere Sensationen erwartet hatten, haben sich allerdings getäuscht. In aller Ruhe kamen um 10 Uhr die SA-Leute in kleinen Trupps und stellten sich vor den unter den Boykott fallenden Geschäften auf. Trotzdem das Publikum auf den Straßen ziemlich erregt war, kam es Dank der Disziplin der SA bisher zu keinerlei Zwischenfällen, zumal auch zahlreiche Geschäfte schlossen und sich dann die Ansammlungen verliefen..."

Der Boykott vom 1. April stellte die Weichen für die zunehmende wirtschaftliche Diskriminierung und Verdrängung der Juden; er war so etwas wie ein Startzeichen.

Der 1. April - Boykott in Pattensen

Wie im Reich wurde der Boykott auch in Pattensen gut organisiert. Punkt 10 Uhr am 1.4.1933 standen vor den beiden jüdischen Geschäften in Pattensen SA-Männer und versuchten, christliche Bürger an dem Betreten der Geschäfte zu hindern. Hierbei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen den SA - Männern und Pattensern, die sich von den Nazi - Parolen nicht beeindrucken ließen und trotz allen angedrohten Schikanen die jüdischen Geschäfte betraten.

Da es in Pattensen zu der Zeit nur zwei Geschäfte gab und die restlichen Juden Viehhändler und Schlachter, ohne Geschäft waren, wurden sie von SS - Männern für diesen Tag einfach in Schutzhaft genommen. Die Zeitzeugin Ruth S. zu dem Vorfall:

"Am 1.4.1933 kamen zur Mittagszeit 2 oder 3 SS-Leute, die ohne weitere Informationen unseren Vater und auch die anderen Herren abgeführt haben und sie zur Wache gebracht und dort wie Verbrecher eingesperrt haben. Menschen, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. Die SS-Männer waren nicht aus Pattensen, wahrscheinlich haben sich die Pattenser zu der Zeit noch geschämt. Misshandelt wurden die jüdischen Männer nicht, aber es war sehr demütigend, was ja fast genau so schlimm ist, da es alles ehrbare Geschäftsleute waren, die nie etwas Unrechtes getan hatten. Abends hat man sie unter großem Gejohle wieder nach Hause begleitet."

Es ist also festzustellen, daß die Organisation des 1. April-Boykottes gut klappte. Die Vorgaben, die die Parteileitung gab, wurden genau eingehalten. Selbst auf dem "flachen Land", obwohl hier die Anti-jüdische Propaganda noch nicht den Anklang bei der Bevölkerung fand, wie vielleicht von der Parteileitung erwartet und gefordert wurde.