Vom Boykott bis 1937

Das Leben und die Aktivitäten der deutschen Juden nach dem April-Boykott bis Ende 1937

Das deutsche Judentum, welches politisch wie auch religiös in verschiedene Gruppen gespalten war, musste sich unter dem Zwang der Verhältnisse, nach dem 1.4.1933 zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Bereits am 13.4.1933 wurde der "Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau" gegründet. Der Zentralausschuss übernahm auf Reichsebene wirtschaftliche, soziale und wohlfahrtspflegerische Aufgaben. Im Zentralausschuss waren alle führenden jüdischen Verbände und Hilfsorganisationen vertreten. Den Vorsitz führte stets Leo Baeck, der in Personalunion auch der Reichsvertretung vorstand.

In den ersten eineinhalb Jahren seines Bestehens war der Zentralausschuss wie ein Dachverband. Später wurden dann im Zuge einer Organisationsreform mehrere Abteilungen unmittelbar der Reichsvertretung unterstellt. Im September 1933 wurde dann die "Reichsvertretung der deutschen Juden" gegründet. Sie war für die politische Repräsentation sowie für sämtliche Kultusaufgaben der jüdischen Bevölkerung zuständig. Ihre Aufgabe bestand auch in der Koordination der Arbeit, die die an deren Organisationen leisteten. Hauptsächlich waren dies die Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung, Berufsumschichtung, Schul- und Bildungswesen, Wirtschaftshilfe und die Wohlfahrtspflege. Die Durchführung all dieser Aufgaben wäre ohne das soziale Engagement und die Geldspenden der deutschen Juden nicht möglich gewesen. Wesentlich wurde die Reichsvertretung auch von ausländischen jüdischen Verbänden unterstützt. An dieser Stelle sind vor allem die amerikanischen und englischen Verbände hervorzuheben.

Eine weitere Einrichtung war die Anfang April 1933 in Berlin gegründete"Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe". Sie hatte sich zur Aufgabe gemacht, die jüdischen Arbeitslosen zu unterstützen, Umschulungen vorzunehmen und Arbeitsstellen zu vermitteln. Die Bemühungen um Arbeitsstellen richteten sich hauptsächlich auf jüdische Betriebe, da die Zahl der selbständigen Betriebe am Anfang noch relativ groß war. Auf diese Weise konnten noch viele Arbeitsplätze und Lehrstellen vermittelt werden. Durch diese Maßnahme wurde das jüdische Wirtschaftsleben 1933 umgeschichtet: Immer mehr Juden arbeiteten in jüdischen Betrieben und sicherten sich dadurch im wirtschaftlichen Verkehr untereinander ein Einkommen.

Mit der zunehmenden Verdrängung aus dem aktiven Wirtschaftsleben wuchs die Zahl der unterstützungsbedürftigen Juden von Jahr zu Jahr. Im Jahr 1935 musste fast ein Drittel aller deutschen Juden dauernd oder zeitweise, meistens im Winter, unterstützt werden. Diese Unterstützung kam aber nicht nur von der öffentlichen Fürsorge, die bis November 1938 die Juden noch unterstützte, sondern teilweise auch von den Wohlfahrtsabteilungen der jüdischen Gemeinden. Diese plötzliche Notlage vieler jüdischer Familien musste mit finanziellen Mitteln gelindert werden, ohne dass vorerst größere Mittel zur Unterstützung zur Verfügung standen. Aber die Unterstützungszahlungen machten nur den kleineren Teil der Wohlfahrtsausgaben aus, das meiste Geld floss in die Unterhaltung der Waisen- und Krankenhäuser sowie der Alters- und Kinderheime.

In den Jahren 1933 - 1939 setzte eine Landflucht der jüdischen Bevölkerung ein. 1933 lebten 70,9% der deutschen Juden in Großstädten. Im Jahr 1939 waren es bereits 81,9% , einschließlich Österreich.

In den Großstädten erhofften sie sich bessere Berufschancen und Emigrationsmöglichkeiten durch die ausländischen Konsulate. Die großen Städte boten aber auch mehr Anonymität, die sie vor antijüdischen Ausschreitungen schützen sollte.

Im Jahr 1933 flüchteten ca. 37000 Juden aus Deutschland. Das war der erste große Auswanderungsstrom, der als Reaktion auf die Verhältnisse in Deutschland zurückzuführen ist. Die Grafik zeigt die unterschiedlichen Stufen der antisemitischen Politik auf: Massenflucht 1933, Absinken der Auswanderer 1934, bedingt durch scheinbares nachlassen des anti - jüdischen Terrors und durch Hoffnung auf ruhigere Zeiten nach dem "Röhm-Putsch". Eine zweite Auswanderungsphase lässt sich auf die Zeit nach den "Nürnberger Gesetzen" im September 1935 datieren. Mitte 1938 setzt wieder eine Verschärfung des Kurses gegenüber den Juden ein, der im Novemberpogrom 1938 gipfelte.

Die Auswanderer hatten 1933 noch die Hoffnung, dass der Terror in Deutschland bald ein Ende finden würde. Ihre Ziele waren daher hauptsächlich die europäischen Nachbarländer.

In den Jahren 1934 bis 1937 verringerte sich die jüdische Bevölkerung um ca. 130000 Personen. Rund 92000 waren ausgewandert, der Rest ist die Differenz zwischen Geburten- und Sterbeziffer. Viele der Auswanderer, rund 60%, waren zwischen 20 und 45 Jahre alt, was eine Überalterung der jüdischen Gruppe in Deutschland zur Folge hatte.

Aus der Emigration der jüdischen Menschen wussten die Nazis durch die "Reichsfluchtsteuer", Nutzen zu ziehen. Die Reichsfluchtsteuer wurde am 8.12.31 eingeführt; sie betraf alle auswanderungswilligen Reichsangehörigen. Ursprünglich war das Gesetz zur Behinderung von wohlhabenden Reichsangehörigen gedacht, die ihr Vermögen außer Landes bringen wollte.

Die am 26.7.33 und am 18.5.34 erlassenen Ergänzungen zielten dann speziell auf jüdische Emigranten ab. Von 1932 - 1940 dürfte die Reichsfluchtsteuer bei etwa 900 Millionen RM gelegen haben.

Die Zeit 1933 bis 1937 in Pattensen

1933 lebten in Pattensen noch 43 Juden. Auch für sie wurde das Leben nach dem 1.4.33 schwerer. Sie waren Diskriminierungen und Demütigungen ausgesetzt. Die davon betroffenen Zeitzeugen können sich noch sehr gut an die Schikanen und Erniedrigungen, die sie erleiden mussten, erinnern. Auch Freunde und Bekannte, die noch zu ihnen hielten, wollten, bis auf rühmliche Ausnahmen, nichts mehr von ihnen wissen. Dazu Miriam W.:

"Gleich mit dem Aufstieg der Nazis fingen die Angriffe auf uns an. Fenster wurden regelmäßig zerschlagen. Wir wurden von anderen Kindern und der Hitlerjugend angepöbelt und mit Steinen beworfen. (...)

Mein Vater hatte viele Freunde unter den christlichen Pattensern. (...) Innerhalb einiger Monate verließen ihn alle diese Freunde. (...) Ich erinnere mich, dass er von einer Versammlung des Schlachterverbandes zurückkam. Dort wurde all den jüdischen Mitgliedern klar gemacht: "Ihr habt nur noch Pflichten, aber keine Rechte." Dieser Satz ist mir noch heute im Gedächtnis. "

Aber auch in der Schule war es nicht viel anders. Ein ehemaliger Mitschüler und Freund von jüdischen Kindern erinnert sich, dass die jüdischen Kinder in der Volksschule von Mitschülern angespuckt und beschimpft wurden. Selbst einige Lehrer beteiligten sich an diesen Schikanen.

Da war es dann auch nicht verwunderlich, dass 31 Juden Pattensen verließen um "direkt ins Ausland zu gehen oder in der Stadt ungestört zu leben". Miriam W. beschreibt ihre Emigration so:

"Mit 14 wurde ich wie alle jüdischen Schüler aus der Schule entlassen. (...) Kurz darauf entschließ sich meine Mutter, mich nach Hamburg in das jüdische Waisenhaus zu schicken, um dort Hausarbeit zu lernen. Meine Mutter war eine tapfere Frau, sie wusste, dass ich auswandern muss um am Leben zu bleiben. (...) Da kam zur Waisenhausleitung der Vorschlag, uns mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Meine Mutter war die erste, die zustimmte. (...) Sie wusste, dass dies meine letzte Chance war zu fliehen. (...) Wir fuhren durch Holland mit der Bahn und dann per Schiff nach Dover. Dort wurden wir in einem Ferienlager untergebracht. (...) Dieser Kindertransport wurde von einem Komitee englischer Juden organisiert.

In England blieb ich 10 Jahre. Nach Israel kam ich dann im Dezember 1948".


Von den 31 Juden, die Pattensen verließen, emigrierten 5 nach Argentinien und 2 bis Kriegsende nach England. Der Rest von ihnen zog in das nahegelegene Hannover oder in andere Großstädte, um sich vor den antisemitischen Übergriffen in Pattensen zu schützen. Dieses war aber ein Trugschluss, denn wer einmal als Jude bei Behörden und Gestapo registriert war, für den gab es auch in den Großstädten kein Untertauchen mehr. Deshalb kamen viele auch wieder nach Pattensen zurück.

Eine Bilanz der Verdrängung bis 1937

Der Unterschied zwischen den 350000 Juden im Jahr 1937 und den 525000 Juden 1933 lag in der Verminderung ihrer Gemeinschaft und in ihrem Alter. Dieses lag hauptsächlich an der Emigration, der vorwiegend jüngeren Mitglieder, durch welchen die jüdische Gemeinschaft einem raschen Überalterungsprozess und einer Verminderung ausgesetzt waren.

Durch die Gesetze und Verordnungen, die sie aus dem Berufsleben drängten, hatten die Juden auch an ihrer wirtschaftlichen Kraft bedeutend eingebüßt. Deshalb waren viele von ihnen auf die Wohlfahrtspflege angewiesen. Dennoch gab die jüdische Gemeinschaft nicht auf. Sie versuchten ihren Betrieb, Laden oder Arbeitsplatz mit allen Mitteln zu halten, oder wenn dies aussichtslos war, einen neuen Beruf zu erlernen. Trotz allem stand ihre wirtschaftliche Existenz, Ende 1937 kurz vor der endgültigen Vernichtung.